Sonntag, 25. Dezember 2016

Marina - Das magische Licht

Das magische Licht

Heike Maria Zimmermann


Saarbrücken, den 22./23. Dezember 2016

Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

Wer die Kurzform lesen will, lässt das kursiv Gedruckte weg. Im Anhang Fotos



Allerorts sollte an diesem Abend ein Friedenslicht angezündet werden.
Die Menschen in Deutschland forderten sich gegenseitig auf, dieses gegen 20.00 Uhr in der Dunkelheit in ihr Fenster zu stellen.
Aber Marina würde nicht zu Hause sein. Zwei Tage vor dem Weihnachtsfest war sie zum Geschenkeshopping mit ihrem Mann Daniel verabredet. Ein paar Dinge fehlten. Danach würden sie zum Essen gehen. Vielleicht um diese gemeinsam zu erlebende Zeit an einem Tisch bei Kerzenlicht sitzen, sich unterhalten, vieles Revue passieren lassen, aber auch noch das Fest etwas planen. Nein, das war nicht zu spät. Für Daniel genau der richtige Zeitpunkt sich den Kopf dafür frei zu machen und ganz bei Marina zu sein.
Natürlich war es eigentlich spät. „Ich habe die meisten Weihnachtsgeschenke schon“, sagte sie immer wieder schon Wochen zuvor zu ihrem Mann. Nur, das Problem war, dass er selbst noch keine gekauft hatte. Dabei hatte Marina an ihr Kind Océane gedacht, den alten Mann, der bei ihnen wohnte, ihre Schwiegereltern Harry und Helène. Auch ihre eigene Mutter war nicht zu kurz gekommen, nachdem man ein paar Tage zuvor auf einem weihnachtlichen Konzert gewesen war. Musikalische Momente, die gedacht waren zur Einstimmung auf das eigentliche Fest. Und Daniel war dabei gewesen, auch wenn die Hallentür hinter ihm aus Sicherheitsgründen direkt geschlossen wurde, weil er auf den letzten Drücker mal wieder erschien. Berufliche Termine eben. Es lief gut in diesem Jahr.

„Man sollte nicht zu solchen Großveranstaltungen gehen“, sagte Marinas Mutter und meinte damit das Sich-Aussetzen einer Gefahr. Océane, die mit von der Partie war, stimmte ihr eigentlich zu. Niemand hatte der Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin tagszuvor ohne Meinung und belastende Gefühle gelassen.

Dabei konnte Weihnachten so schön sein. Die selbst gebackenen Plätzchen waren alle schon aufgegessen. Marina, die dieses Jahr arge Schmerzen in den Beinen plagten, kam nicht nach, neue zu zaubern. Im Gegenteil, sie musste ihre Arbeit unterbrechen. So ruhte der Teig wie sie zwei Tage, damit es wieder besser ging. Seit sie im Rollstuhl war, ging alles nicht mehr so wie früher. Der Plätzchenduft hatte das Haus trotzdem gefüllt, die ausgestoßenen Schmandsterne waren mit Hagelzucker verziert, und ihr abwandelbares Grundrezept mit Rohrzucker und Rübensaft sollte folgen. Einmal tat sie Pinienkerne hinzu, ein anderes Mal Ingwer oder Zimt. Lecker. Kein Wunder, dass Helène bei ihrem Besuch schon vor Weihnachten zugriff und der alte Mann es ihr nachtat. Außerdem liebte auch Marina Plätzchen, halfen sie doch über manch trüben Gedanken hinweg.

Der Terroranschlag von Berlin mit dem rasenden LKW erweckte Erinnerungen an den Sommer. Daniels Jahresurlaub ging mit dem Fahrrad nach Nizza. Er und seine Mitfahrer hatten Spenden gesammelt, um den traumatisierten Opfern des Anschlags zu helfen. Nizza war eine sehr bewegende Sache geworden. Die tränenerstickende Stimme der stellvertretenden Bürgermeisterin, die teils auf französisch, teils auf deutsch sprach vor den Gedenkgaben hunderter Menschen, die Anteil vor Ort schon genommen hatten, machte Gänsehaut. Das hatte die deutschen Radfahrer und ihr Begleitteam, zu dem Marina gehörte, beeindruckt.

Kein Wunder also, dass viele Menschen kurz vor Weihnachten nach den Berlin-Ereignissen das Friedenslicht weitergeben wollten. Das Netz war voll von Aufrufen. Jeder schien also mitzumachen.

Und deshalb war es umso schöner für Marina, was ihr an diesem Tag passierte. Der Ablauf der Woche – am Samstag war Heiligabend – war schon etwas früher geplant worden. Nicht nur Shopping, Geschenkebesorgen und -verpacken, auch der Baum kam ein paar Tage früher. Und da Daniel noch arbeitete, hatte er ihn am vierten Adventssonntag, also fast eine Woche davor, bereits aufgestellt. Sein Part war auch die Lichterkette am Baum zu befestigen. „Jetzt könnt ihr ihn schmücken“, stellte er fest, während er am Baum, die eine oder andere Lichtkerze noch veränderte, damit sie ihren richtigen Platz fand. Die beiden roten Kisten mit den Kugeln und den weiteren Dekorationsfiguren befanden sich schon oben im Esszimmer, wo die Nobilistanne dieses Jahr ihren Platz bekommen hatte.  Aber wer dekorierte? Océane hatte in ihrem Teenageralter keine Lust mit ihrer Mutter den Baum alleine zu schmücken und Daniel war wieder beruflich außer Haus. Abends als er heimkam, brannte nur die Lichterkette daran. Kein Rot, kein Gold glänzte noch daran.
„Du musst eine Zeitschaltuhr benutzen wie bei der Außenbeleuchtung,“ schlug Marina vor. So schön es auch war, morgens schon vor einer leuchtenden Tanne zu frühstücken.

Am Mittwoch kam eine Freundin von Marina mit ihren beiden Kindern. 

Ihr Sohn Gabriel war acht Jahre alt und ihre Tochter Sarah war in Océanes Alter. Früher zu Weihnachten hatten sie gemeinsam gebastelt. Nun hing der Kranz, der die diesjährige Bastelidee geworden wäre, bereits am Fenster. Die Bastelanleitung ging durch das Netz und viele wollten einen so schönen Kranz nachmachen. Marina hatte Glück. Auf einem der vielen schönen Weihnachtsmärkte fand sie ihn. Fertig. Sie wählte ihn aus und bezahlte einen guten Preis. „Die Finger haben beim Aufbiegen des metallernen Kleiderbügels trotz Zange wehgetan“, sagte die Hobbyweihnachtsmarktverkäuferin. Und Marina hatte ihm einen besonderen Platz am Esszimmerfenster in ihrem Heim zugewiesen.

Die Kinder waren groß, nicht mehr alle wollten basteln. Wenn eine gute Idee dabei war, vielleicht. Aber Marina hatte andere Ideen. 

Unter anderem war da noch der zu schmückende Weihnachtsbaum. Und dann machte das Baumschmücken allen Spaß. Die Freundin bewies sich als wahres Talent, die Kugeln und die Restdeko mit den Kindern zu platzieren und ihn zum Leben zu erwecken. Marina beeinflusste mit ihren Wünschen kaum das Geschehen, sondern überließ es der Erfahrung der Freundin und der Erlebniswelt der Kinder. Sie wühlte nur in der Kiste, um ein paar seltene Figuren zu zeigen, die auch gut, die am oberen Ende etwas kahl gewachsene Tanne füllten. Da war ein Stern, der immer als Spitze diente. Diesmal fehlte ihm ein Band, das Marina besorgte. Das war fast ihre einzige Aufgabe. Der Baum wurde perfekt…und leuchtete mit den Kerzen.

Abends kam Daniel nach Hause, und aß zufrieden Kuchen vor dem fertig geschmückten Weihnachtsbaum. Gabriel zeigte er seine neue Datenbrille, mit der man in 3D mittlerweile mit dem Handy überall hinreisen konnte. Und alle am Tisch waren in New York oder Hongkong jetzt dabei. „So eine will ich auch zu Weihnachten haben“, sagte der aufgeweckte Junge. Die Gäste verabschiedeten sich hinaus in das Dunkel und um Mitternacht würde die neue Zeitschaltuhr die Baumkerzen ausgehen lassen, um sie tagsdarauf wieder brennen zu lassen.

Der darauffolgende Tag war für einen besonderen Gast, nämlich den Weihnachtsmann, reserviert.

Ein Zeitschenker wollte er sein. So stand er in der Zeitung. Hingehen zu Menschen, die nicht so beweglich waren. Die krank waren, bettlägerig oder die Wohnung nicht mehr verlassen konnten. Er hatte sich vierzehn Tage bis zum ersten Weihnachtstag frei genommen, um nur mit einer Bus- und Saarbahnnetzkarte sich im Stadtgebiet von Saarbrücken von Mensch zu Mensch zu bewegen. Auf die Zeitungsannonce meldeten sich wenig. Die Leute trauten sich nicht richtig, jemanden zu benennen, der seine Hilfe in dieser hektischen und manchmal einsamen Zeit benötigen konnte. Dabei ging es gar nicht um sie direkt.
Marina war bereits über Facebook von Daniels Ansinnen – er hieß wie ihr Mann – informiert gewesen und hatte Zeit über sein Angebot nachzudenken.
Da er vor einiger Zeit als Bewegungstherapeut in der Stadt auf Marina in ihrem Rollstuhl aufmerksam wurde, kannten sie sich flüchtig. Eben danach über Facebook. Für seine Weihnachtsaufgabe hatte er sich einen Bart wachsen lassen.

Ja, Marina kannte Menschen, die nicht mobil waren. Die in Wohnungen wohnten, wo sie selber schlecht hinkam. Es wäre eine Gelegenheit, Menschen zu besuchen, die sie von früher kannte und meist nur noch telefonisch erreichen konnte. Auch weil diese älter und gebrechlicher wurden.
Aber Marinas Besuchswunsch war in der Hektik der Vorweihnachtszeit untergegangen und die Freunde vertrösteten sie auf die Zeit nach dem Fest. Aber da war Weihnachtsmann Daniel nicht mehr existent. Schade, er hatte die Überraschung werden sollen für die Betagten.

Also lud Marina ihn zu sich ein. Warum nicht? Océane sah ihn schon am Fenster in seiner Sackmontur kommen. „Oh da kommt er.“ Ja, mit Mütze, Schal, Decke und Weihnachtsjacke unterm Kartoffelsack war er zu erkennen. Und er ging barfuß. Na ja, in Flipflops bis zur Haustür. Als er klingelte stand er auf einer Decke, die Sommerfüßler beiseite gelegt. Océane wollte abwarten. Schließlich kam er zu Besuch zu ihrer Mutter. Auch der alte Mann verharrte auf dem Sofa und blätterte immer noch neugierig in einem neuen Jahreskalender, einem verfrühten Weihnachtsgeschenk, das bereits mit der Post eingetroffen war. Marina und der Mann umarmten sich. Es war regnerisch draußen und die mitgebrachte Dezemberkälte im warmen Haus tat gut. Er verweilte nicht auf dem Marmorboden in der Küche, sondern legte seine Decke aus im Esszimmer. Ein guter Platz für ein Gespräch.
Marina und Daniel unterhielten sich über das Projekt Weihnachtsmann und die Scham der meisten Menschen, ein bißchen Wärme, Zeit und Freude anzunehmen…

„Ich habe eine Bitte an Dich“, sagte sie, während sie grünen Tee zubereitete. „Würdest Du mir die Kerzen am Baum anschalten?“ Der Baum leuchtete noch nicht. Es war alles etwas zu eng und durch ihre Schmerzen war Marina nicht selbst in der Lage, sich zur Steckdose hinter den Baum irgendwie zu bewegen. Sturzgefahr für sie.
Sie hatte schon, bevor seiner Ankunft den alten Mann gefragt. „Ich weiß nicht, wie es geht“, kam als Antwort. Marina hatte ihn ungläubig angesehen. Dann ergänzte er: „Er wird mit dem Feigenbaum draußen um 16.30 Uhr angehen.“ Marina sah ihn noch skeptischer an. Der alte Mann hatte zwar beobachtet um welche Zeit die Außenbeleuchtung programmiert war, aber diese Uhr hing ja nicht mit der Schaltung der Baumkerzen zusammen.
Sie würde auf den Weihnachtsmann Daniel einfach warten und diesen bitten. Was sie letzteres auch tat, während sie den Tee in die Tassen goß. Aber irgendwie akklimatisierte sich Daniel gerade mit seinem größeren Gewand und kletterte nicht zwischen Wand und Baum an die verborgen liegende Steckdose. Er setzte sich. Das Gespräch war spannend für beide. Auch wenn es draußen dämmerte und Marina gerne die Lichter hinter ihm gesehen hätte.

„Halb fünf ist vorbei, es geht immer noch nicht“, sagte sie in Richtung des alten Mannes, während im Garten bereits die Beleuchtung brannte.
„Ich schau mal später nach“, beruhigte Daniel Marina und man unterhielt sich weiter. In Marinas Hinterkopf hämmerte es dagegen. „Warum macht er es eigentlich nicht gleich?“ Sie verstand das nicht wirklich. Das Gespräch war hochinteressant, aber kurz aufstehen und die Zeituhr ausstellen, war doch kein Problem. Nicht für ihn. Marina hätte es längst gemacht, wenn sie gekonnt hätte. Es war schon betrüblich dunkel und sie wollte doch ihren Baum in Glanz und Gloria zeigen. Aber sie sagte nichts. Warum auch immer. Weil sie nicht dominant sein wollte, um mit ihrer Bitte durchzudringen. Sie hatte gelernt in ihrem Leben, die Dinge so zu nehmen wie sie waren. Sie war dankbar immer für das was kam. Denn im Laufe ihrer Tage hatte sie auch gelernt, dass die Gnade Gottes größer war als ihre eigenen Wünsche, Gedanken und Befürchtungen.

Marina zeigte Daniel ein paar Sachen in ihrem Zuhause, bis das Telefon klingelte. Ihre Bügelfrau kündigte sich an, um Wäsche abzuholen, die sie rechtzeitig vor dem Fest fertigbügeln würde. Sie als Französin staunte nicht schlecht, über die nackten Füße. „Ich trage gerne schöne Schuhe“, meinte sie bei dem Anblick. Marina verwies auf ihre neuen maßangefertigen Stiefel. „Ich mag auch schöne Schuhe ansehen, kann sie aber nicht mehr tragen.“ Der Weihnachtsmann, der ein erdverbundener Naturbursch im Grunde war, wollte damit ein Stück Urwald in die Stadt tragen. Sein Markenzeichen.
Océane wagte sich hervor und bestaunte mit Angéle seine Füße. 

Immer noch brannte nicht das Licht am Baum. Wie lange das noch dauern würde, bis er nachsah? Man kannte sich und die Bedürfnisse des anderen nicht gut genug, um nochmal was zu sagen. So dachte Marina. ‚Er ist ja hier nicht zuhause.‘
Auf jeden Fall schenkte Daniel Zeit. Das stimmte schon mal. Ihr eigener Mann war gerade bei seinem Vater Harry gewesen, der im Krankenhaus lag und machte sich jetzt auf in die Stadt. Er rief an und wollte den Zeitpunkt und den Ort ihres späteren Treffens festlegen. Marina würde mit dem Wagen hinfahren.

Und während Marina den Hörer in der Hand hielt und der andere Daniel endlich aufgestanden war, um sich hinter den Baum vorzutasten, da fingen die Baumkerzen plötzlich wie aus dem dunklen Nichts an zu leuchten. Und nicht weil der eine Daniel an der Uhr gedreht hatte, sondern weil Marinas Daniel am Telefon gestern die Uhr so eingestellt hatte, dass der Baum just zu diesem Zeitpunkt anfing zu leuchten. Das war ein magischer Moment. Der Anblick des leuchtenden Baums mit dem Weihnachtsmann dahinter, der nichts getan hatte, war besonders.
Etwas irritierend, schön und wertvoll zugleich. Ausharren lohnte. Auf das Licht zu warten. Es kam.

„Du, Daniel, das Licht vom Baum ist gerade angegangen“, sagte Marina laut ins Telefon und in den Raum. Damit es jeder hier und da draußen hören konnte.

Und so wurde es vielerorts in nicht ganz einfachen Zeiten wieder Weihnachten.



Anhang
Verbreitete Nachricht über die sozialen Netzwerken


Die Trauerbeigaben in Nizza an der Promenade des Anglais

Die angekommenen Radfahrer und der Rotarier Club von Nizza im Sommer 2016
Bei dem Anschlag in Nizza am 14. Juli 2016 fuhr der Attentäter Mohamed Bouhlel auf der Promenade des Anglais mit einem LKW durch eine Menschenmenge. Mindestens 86 Personen wurden getötet und mehr als 300 zum Teil schwer verletzt. 


Unser geschmückter Weihnachtsbaum



Der Weihnachtsmann und der Zeitschenker Volker Wieland

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