Warein Lied, das hat allen neuen Mut und Kraft
verliehen.
Peter
Maffay
Text
und Musik gecovert von Ric Makkay (youtube)
Sogar der Charleston wurde getanzt. Der
Gitarrist spielte einfach wunderbar. Seine Musik hatte das gewisse Etwas. Pep
lag darin. Ute erklärte es Marinas Mutter so, als sie sich darauf ausgelassen
bewegte: „Das muss bei mir in der Balance sein. Diese zwei Hälften.“ Sie hielt
ihre beiden Hände offen vor sich hin. „Ich arbeite hart, also feiere ich auch
ausgiebig“. Zu den Flamencoklängen war sie als einer der ersten auf der Bühne,
die im Rhythmus der Musik zu tanzen begann. Da warRuth aus Peru und Shilpa aus Indien, die
Marina von ihrem sicheren Platz am Rande der Terrasse beobachtete. Und Wynnie
aus Kenia sowie Stella aus Italien, die erst etwas später dazu kam. Alle hielt
es nicht auf den Stühlen. Beim Charleston sah Marina wie die Beine schräg nach
außen und nach hinten gingen und die Hände sich an den Oberschenkeln links und
rechtsauf und ab bewegten. Die
Tanzfläche war auch in der Hand der netten Rosemarie aus Chile und Floca aus
Frankreich. Und Marina war trotz ihrer Behinderung dabei und liebte den Klang
der Musik,der alle verzückte.
„Was sind das für hübsche Frauen hier“.
Der Peter-Maffay-Cover Sänger aus dem Vorprogramm wunderte sich. Eigentlich war
er ein guter Klarinettist, aber irgendwie stand er sich immer selbst ein
bisschen im Weg. So hatte er an diesem Samstag verschlafen und kam etwas spät
und konnte die Stimmung nicht so anheizen, wie er sich das vorgestellt hatte.
Dafür bildete er ein wunderbares Duo mit dem begnadeten Gitarristen, der
bereits einen ersten Auftritt am Nachmittag bei einem anderen Fest hinter sich
hatte. „Nur noch diese Musiker das nächste Mal“, rief Floca Marina beim Tanzen
und voller Begeisterung zu. Es war nicht das erste Fest bei den Carpentiers im
Garten. Ach doch, ihre Musik war immer gut ausgewählt bei ihren Festen. Daniel
und Marina waren froh, Musiker unter ihren Freunden zu haben.
Was für eine Zeit liegt hinter uns. Reich war sie und beschenkt wurden wir. Aber das war nicht alles. Was wir jetzt brauchen, ist das Neue. Neue Kraft für uns alle. Sie wird uns helfen, persönliche Schwierigkeiten bestmöglichst zu bewältigen. Nicht alleine, sondern gemeinsam.
Luciah war wütend. Sehr wütend. Um sich abzureagieren, griff
sie zum Telefon. Aber dort wo sie anrief, war niemand da oder hatte keine Zeit.
Ihre Mutter hatte ihre eigenen Probleme und war wütend auf andere. Also keine
Chance nach ein paar Hiobsbotschaften schnell wieder heil zu werden, oder?
Luciah wollte aber ihren Zorn loswerden. So schnell wie möglich, um neue Dinge
zu tun, die gut und positiv waren. Es gab ein paar anstehende Sachen. Good
Luck. Trotz ihrer negativen Erfahrungen mit Menschen, konnte sie noch was Gutes
an diesem Tag erreichen. Aber ihre maßlose Enttäuschung musste einfach weg.
Bei einer Therapeutin auf Instagram hörte sie, es war dieser
ähnlich ergangen. Sie wußte, man ließ den Kummer und den Zorn wie einen Gast
herein, ließ ihn sich aussprechen und dann wenn es genug war, verabschiedete
man diesen wieder.
„Das ist Bewußtmachen durch Aussprechen“, sagte der
Buddhist. Luciah hatte die Nummer eines früheren Bekannten gewählt. Er hatte
sich viel mit Buddhismus beschäftigt und die Länder Asiens bereist. Durch
Corona führte er als Risikopatient nun ein in Deutschland bescheidenes, eher
einsames Leben. Er hatte sich ein E-Bike gekauft, mit dem er abends ein paar
Kilometer durch die Gegend fahren konnte. Seine Enkelkinder hatte er schon
länger nicht mehr gesehen.
Für Luciah war er jetzt genau der Richtige. Seine tägliche
Leere fühlte sich mit buddhistischem Gedankengut. „Du musst den Zorn
verwandeln…“ sagte er. „Nicht auf die betroffenen Menschen noch projezieren.“
Und „die Menschen brauchen Liebe, Beachtung und Berührung.“ Er sprach von
menschlicher Nähe. Diese wurde auch nach langer Zeit der kontaktlosen Zeit
zwischen ihm und Luciah spürbar. Luciah hatte sich genug mit dem Buddhismus
beschäftigt, um ihn direkt mit den kausalen übergreifenden Zusammenhängen von
Handlungen zu verstehen. Aber sie wollte nicht so einfach den Menschen, die sie
verletzt hatten, verzeihen. Sie wußte über Karma Bescheid. „Wer Gutes tut, wird
Gutes ernten…“ Nun, sie hatte den Menschen Gutes getan und jetzt wo sie sie
brauchte, war sie allein.
„Ich hab da ein Gebet von Mutter Theresa, das ich immer
wieder verteile.“ Der Buddhist hatte ein Geschenk für sie. Luciah haderte einen
Moment, ob es das Richtige für sie sei. Aber in seiner wahren Natur konnte er
es nur gut für die hilfesuchende Frau ausgewählt haben.
„Der Mensch ist unverstanden, unlogisch und selbstsüchtig.
Es ist nicht wichtig, lieb ihn!
Wenn du nur gute Sachen machst,
werden sie das an deine
selbstsüchtigen Ziele verschreiben.
Es ist nicht wichtig, mach nur gute Sachen.
Wenn du die Ziele erfüllst,
findest du nur unwahre Freunde
und ehrliche Feinde.
Es ist nicht wichtig, erfülle deine Ziele!
Alles Gute, was du macht,
wird morgen vergessen.
Es ist nicht wichtig, sei ehrlich!
Die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit werden dich
verletzbar machen.
Es ist nicht wichtig, schaffe es!
Wenn du den Leuten hilfst,
wirst du schlecht vergangen.
Es ist nicht wichtig, hilf ihnen!
Du gibst der Welt das Beste von dir,
sie gibt dir nur Schläge zurück.
Es ist nicht wichtig, gib das Beste von dir.
(steht am Geburtshaus der Mutter Theresa in Mazedonien)
Diese Sprache, diese Worte. Wie feuernder Balsam für die
geschundene enttäuschte Seele. Mach es trotzdem! Geh weiter!
Eine klare wunderbare Botschaft. Luciah wurde wieder happy.
Der Ärger verflog. Nach dem Gespräch aß sie einen Keks vom Gardasee und trank
dazu einen Schluck Rotwein. Sie erinnerte sich an den Urlaub, den sie gerade erlebt hatte. Dann klingelte es an der Tür. Der neue Teekocher,
den sie sich so bewusst wie möglich ausgesucht hatte, wurde gerade geliefert.
Der Zorn war weg und Luciah widmete sich neuem. Die bösen Geister waren
gegangen. Neue Gäste konnten kommen. Und der Buddhist würde wieder radeln.
Luciah war in der Werkstatt mit ihrem Wagen. Sie musste die Winterreifen wechseln.
"Viel zu spät", dachte sie.
"Na ja macht nichts", beruhigte sie sich.
"Besser spät als gar nicht."
Sie blätterte während des Wartens in den ausgelegten Zeitschriften und trank dabei einen Orangentee. Der Duft stieg in die Nase beim Lesen. 'She's Mercedes' war eine relativ neue Zeitschrift für Frauen, die einen solchen Wagen wie sie fuhren. Luciah fühlte sich dazugehörig, auch wenn sie das Blatt in der aktuellen Ausgabe nicht mehr zugeschickt bekam.
"So ein Exemplar würde ich mir gerne mitnehmen", überlegte sie beim Blättern.
Und einen Artikel darin wollte sie vertiefen und aufheben. Ein Topmodel namens Amber Valletta hatte doch tatsächlich acht nachhaltige Gründe für faire Mode und den Umgang mit einem neuen Modebewusstsein darin veröffentlicht. Luciah staunte und las. War das doch ihr Aufgabengebiet.
Weiter zum Thema Charisma. Weiter zu diesem und jenem interessanten Artikel. Die Mischung hier passte schon.
Und da fand Luciah ihn. Ja, sie hatte davon gehört. Ja, sie wollte lesen über die Einsamkeit, während sie mehrfach ihr Handy in der Hand drehte und immer bereit für neue Nachrichten war. Halt, Manfred Spitzers neues Buch mochte ja stimmen über die Vereinsamung und das Alleinsein im Alter. Luciah wollte doch nicht weiterlesen und die traurig aussehende Frau auf dem Foto betrachten. Nein, sie wollte fröhlich sein.
Sie rief den nun schon sehr betagten Angel an. Angel konnte nicht wissen, warum Luciah gerade heute etwas mit ihm machen wollte.
"Du.", sagte sie.
"Ich bin unterwegs und würde Dich gerne treffen."
"Jaaa", staunte ihr Gegenüber am anderen Ende des Gesprächsverbindung.
"Das freut mich aber."
"Kennst Du ein Cafe in der Nähe, wo wir hingehen können?"
"Ja, da ist ein neues ganz in der Nähe. Es hat vor kurzem erst aufgemacht."
"Nein, nicht zu spät" Luciah triumphierte innerlich. Sie tat das richtige. Und während Angel ihr erklärte, wie sie zu dem neuen Cafe kam, bezahlte sie ihre Rechnung und fuhr los. Stau. Unfall. "Nein, nein, nicht zu spät..." Rechtzeitig, auch wenn es nur langsam voranging.
*
Das Café war aufwendig eingerichtet. Man hatte sich wirklich Mühe gegeben. Überall gab es verschieden farbige Stühle, die auch in Größe und Form variierten. Draußen war es mit einem kleinen Garten eingerichtet mit netten Pflanzen in den Kübeln. Auch Kräuter schauten vor. Mit vielen Holzarbeiten präsentierte sich der außergewöhnliche Ort. Man schaute von seinem Platz auf Schränke mit Inventar zum Schmöckern, Anregen und Kaufen. Das, was auf den Tisch kam, war mehr als ungewöhnlich. So eine Mischung hatte Luciah noch nie gesehen. Basillimonade.
"Probier sie mal".
Luciah hielt Angel ihr Glas hin. Er hatte nur einen einfachen Kaffee aus der Maschine bestellt. Er nippte.
Frisch und Lecker. Mit Basilikum und Ingwer. Aber nur mit einem Schuß davon. Dann der Pistaziencremeeclair mit Mandelstiften. Unbegreiflich fein.
Das Konzept sprach eher junges und internationales Publikum an. Fredrik - so der Name der Lokalität - rief förmlich nach Dänemark und seinem Kronprinzen. Luciah hatte Bilder von Kopenhagen vor kurzem gesehen. Das war ihr eigenes Dänemark hier. Ganz in der Nähe.
"Nein, damit habe ich nicht gerechnet", gestand sie sich ein.
Angels Rollator stand in der Ecke. Er hatte Schwindelgefühle und das Laufgerät gab ihm die notwendige Sicherheit beim Gehen. Nun saß er. Luciah hatte darauf geachtet, dass er den schönsten Sessel bekam.
"Ist doch klar" dachte sie. "Für ihn." Was konnte sie hier alles für ihn tun. Ihm anbieten. War schon etwas anderes als in seiner kleinen Wohnung und der bisherigen Umgebung. Und alles passte zu ihnen. Nein, sie waren nicht immer in dieser verfänglichen Situation gewesen. Sie waren auch gemeinsam auf Reisen gewesen.
Angel hatte sich nicht vorstellen können, jemals weit über die achtzig zu werden.
"Ich dachte immer... Im Jahr 2000 bin ich neunundsechzig. Da muss dann Schluß sein." Er war zu Scherzen aufgelegt bei seiner Aussage und wirkte dabei etwas schelmenhaft.
"Das Café ist ein Geschenk. In einer neuen Zeit. Punkt und fertig." Luciah und Angel waren sich einig.
Und dann unterhielten sich Luciah und der etwas schwerhörig gewordene ehemalige Nachbar über ihre gemeinsamen Themen. Beinahe so wie eh und je. Und sie lachten und freuten sich. In dieser jungen aufwendig und mit Liebe gestalteten neuen Welt für sie beide. Würde einer kommen und sagen, es müsste anders sein?
Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte Wer die Kurzform lesen will, lässt das kursiv Gedruckte weg. Im Anhang Fotos
Allerorts sollte an diesem Abend ein Friedenslicht
angezündet werden.
Die Menschen in Deutschland forderten
sich gegenseitig auf, dieses gegen 20.00 Uhr in der Dunkelheit in ihr Fenster zu
stellen.
Aber Marina würde nicht
zu Hause sein. Zwei Tage vor dem Weihnachtsfest war sie zum Geschenkeshopping
mit ihrem Mann Daniel verabredet. Ein paar Dinge fehlten. Danach würden
sie zum Essen gehen. Vielleicht um diese gemeinsam zu erlebende Zeit an einem
Tisch bei Kerzenlicht sitzen, sich unterhalten, vieles Revue passieren lassen,
aber auch noch das Fest etwas planen. Nein, das war nicht zu spät. Für Daniel
genau der richtige Zeitpunkt sich den Kopf dafür frei zu machen und ganz bei
Marina zu sein.
Natürlich war es eigentlich spät. „Ich
habe die meisten Weihnachtsgeschenke schon“, sagte sie immer wieder schon
Wochen zuvor zu ihrem Mann. Nur, das Problem war, dass er selbst noch keine
gekauft hatte. Dabei hatte Marina an ihr Kind Océane gedacht, den alten Mann,
der bei ihnen wohnte, ihre Schwiegereltern Harry und Helène. Auch ihre eigene
Mutter war nicht zu kurz gekommen, nachdem man ein paar Tage zuvor auf einem
weihnachtlichen Konzert gewesen war. Musikalische Momente, die gedacht waren zur
Einstimmung auf das eigentliche Fest. Und Daniel war dabei gewesen, auch wenn
die Hallentür hinter ihm aus Sicherheitsgründen direkt geschlossen wurde, weil
er auf den letzten Drücker mal wieder erschien. Berufliche Termine eben. Es
lief gut in diesem Jahr.
„Man sollte nicht zu solchen Großveranstaltungen gehen“, sagte Marinas Mutter und meinte damit das
Sich-Aussetzen einer Gefahr. Océane, die mit von der Partie war, stimmte ihr
eigentlich zu. Niemand hatte der Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt in
Berlin tagszuvor ohne Meinung und belastende Gefühle gelassen.
Dabei konnte Weihnachten so schön sein.
Die selbst gebackenen Plätzchen waren alle schon aufgegessen. Marina, die
dieses Jahr arge Schmerzen in den Beinen plagten, kam nicht nach, neue zu
zaubern. Im Gegenteil, sie musste ihre Arbeit unterbrechen. So ruhte der Teig
wie sie zwei Tage, damit es wieder besser ging. Seit sie im Rollstuhl war, ging
alles nicht mehr so wie früher. Der Plätzchenduft hatte das Haus trotzdem
gefüllt, die ausgestoßenen Schmandsterne waren mit Hagelzucker verziert, und
ihr abwandelbares Grundrezept mit Rohrzucker und Rübensaft sollte folgen.
Einmal tat sie Pinienkerne hinzu, ein anderes Mal Ingwer oder Zimt. Lecker.
Kein Wunder, dass Helène bei ihrem Besuch schon vor Weihnachten zugriff und der
alte Mann es ihr nachtat. Außerdem liebte auch Marina Plätzchen, halfen sie
doch über manch trüben Gedanken hinweg.
Der Terroranschlag von Berlin mit dem
rasenden LKW erweckte Erinnerungen an den Sommer. Daniels Jahresurlaub ging mit
dem Fahrrad nach Nizza. Er und seine Mitfahrer hatten Spenden gesammelt, um
den traumatisierten Opfern des Anschlags zu helfen. Nizza war eine sehr
bewegende Sache geworden. Die tränenerstickende Stimme der stellvertretenden
Bürgermeisterin, die teils auf französisch, teils auf deutsch sprach vor den
Gedenkgaben hunderter Menschen, die Anteil vor Ort schon genommen hatten,
machte Gänsehaut. Das hatte die deutschen Radfahrer und ihr Begleitteam, zu dem
Marina gehörte, beeindruckt.
Kein Wunder also, dass viele Menschen
kurz vor Weihnachten nach den Berlin-Ereignissen das Friedenslicht weitergeben
wollten. Das Netz war voll von Aufrufen. Jeder schien also mitzumachen.
Und deshalb war es umso schöner für
Marina, was ihr an diesem Tag passierte. Der Ablauf der Woche – am Samstag war
Heiligabend – war schon etwas früher geplant worden. Nicht nur Shopping,
Geschenkebesorgen und -verpacken, auch der Baum kam ein paar Tage früher. Und da
Daniel noch arbeitete, hatte er ihn am vierten Adventssonntag, also fast eine
Woche davor, bereits aufgestellt. Sein Part war auch die Lichterkette am Baum
zu befestigen. „Jetzt könnt ihr ihn schmücken“, stellte er fest, während er am
Baum, die eine oder andere Lichtkerze noch veränderte, damit sie ihren
richtigen Platz fand. Die beiden roten Kisten mit den Kugeln und den weiteren
Dekorationsfiguren befanden sich schon oben im Esszimmer, wo die Nobilistanne
dieses Jahr ihren Platz bekommen hatte.
Aber wer dekorierte? Océane hatte in ihrem Teenageralter keine Lust mit
ihrer Mutter den Baum alleine zu schmücken und Daniel war wieder
beruflich außer Haus. Abends als er heimkam, brannte nur die Lichterkette
daran. Kein Rot, kein Gold glänzte noch daran.
„Du musst eine Zeitschaltuhr benutzen
wie bei der Außenbeleuchtung,“ schlug Marina vor. So schön es auch war, morgens
schon vor einer leuchtenden Tanne zu frühstücken.
Am Mittwoch kam eine Freundin von
Marina mit ihren beiden Kindern. Ihr Sohn Gabriel war acht Jahre alt und ihre
Tochter Sarah war in Océanes Alter. Früher zu Weihnachten hatten sie gemeinsam gebastelt.
Nun hing der Kranz, der die diesjährige Bastelidee geworden wäre, bereits am
Fenster. Die Bastelanleitung ging durch das Netz und viele wollten einen so
schönen Kranz nachmachen. Marina hatte Glück. Auf einem der vielen schönen
Weihnachtsmärkte fand sie ihn. Fertig. Sie wählte ihn aus und bezahlte einen guten
Preis. „Die Finger haben beim Aufbiegen des metallernen Kleiderbügels trotz
Zange wehgetan“, sagte die Hobbyweihnachtsmarktverkäuferin. Und Marina hatte
ihm einen besonderen Platz am Esszimmerfenster in ihrem Heim zugewiesen.
Die Kinder waren groß, nicht mehr alle
wollten basteln. Wenn eine gute Idee dabei war, vielleicht. Aber
Marina hatte andere Ideen. Unter anderem war da noch der zu schmückende
Weihnachtsbaum. Und dann machte das Baumschmücken allen Spaß. Die Freundin bewies sich als
wahres Talent, die Kugeln und die Restdeko mit den Kindern zu platzieren und
ihn zum Leben zu erwecken. Marina beeinflusste mit ihren Wünschen kaum das
Geschehen, sondern überließ es der Erfahrung der Freundin und der Erlebniswelt
der Kinder. Sie wühlte nur in der Kiste, um ein paar seltene Figuren zu zeigen,
die auch gut, die am oberen Ende etwas kahl gewachsene Tanne füllten. Da war
ein Stern, der immer als Spitze diente. Diesmal fehlte ihm ein Band, das Marina
besorgte. Das war fast ihre einzige Aufgabe. Der Baum wurde perfekt…und leuchtete
mit den Kerzen.
Abends kam Daniel nach Hause, und aß zufrieden
Kuchen vor dem fertig geschmückten Weihnachtsbaum. Gabriel zeigte er seine neue
Datenbrille, mit der man in 3D mittlerweile mit dem Handy überall hinreisen
konnte. Und alle am Tisch waren in New York oder Hongkong jetzt dabei. „So eine will ich auch
zu Weihnachten haben“, sagte der aufgeweckte Junge. Die Gäste verabschiedeten
sich hinaus in das Dunkel und um Mitternacht würde die neue Zeitschaltuhr die
Baumkerzen ausgehen lassen, um sie tagsdarauf wieder brennen zu lassen.
Der darauffolgende Tag war für einen
besonderen Gast, nämlich den Weihnachtsmann, reserviert.
Ein Zeitschenker wollte er sein. So
stand er in der Zeitung. Hingehen zu Menschen, die nicht so beweglich waren.
Die krank waren, bettlägerig oder die Wohnung nicht mehr verlassen konnten. Er
hatte sich vierzehn Tage bis zum ersten Weihnachtstag frei genommen, um nur mit
einer Bus- und Saarbahnnetzkarte sich im Stadtgebiet von Saarbrücken von Mensch
zu Mensch zu bewegen. Auf die Zeitungsannonce meldeten sich wenig. Die Leute
trauten sich nicht richtig, jemanden zu benennen, der seine Hilfe in dieser
hektischen und manchmal einsamen Zeit benötigen konnte. Dabei ging es gar nicht
um sie direkt.
Marina war bereits über Facebook von
Daniels Ansinnen – er hieß wie ihr Mann – informiert gewesen und hatte Zeit
über sein Angebot nachzudenken.
Da er vor einiger Zeit als
Bewegungstherapeut in der Stadt auf Marina in ihrem Rollstuhl aufmerksam wurde,
kannten sie sich flüchtig. Eben danach über Facebook. Für seine
Weihnachtsaufgabe hatte er sich einen Bart wachsen lassen.
Ja, Marina kannte Menschen, die nicht
mobil waren. Die in Wohnungen wohnten, wo sie selber schlecht hinkam. Es wäre
eine Gelegenheit, Menschen zu besuchen, die sie von früher kannte und meist nur
noch telefonisch erreichen konnte. Auch weil diese älter und gebrechlicher
wurden.
Aber Marinas Besuchswunsch war in der
Hektik der Vorweihnachtszeit untergegangen und die Freunde vertrösteten sie auf
die Zeit nach dem Fest. Aber da war Weihnachtsmann Daniel nicht mehr existent.
Schade, er hatte die Überraschung werden sollen für die Betagten.
Also lud Marina ihn zu sich ein. Warum
nicht? Océane sah ihn schon am Fenster in seiner Sackmontur kommen. „Oh da
kommt er.“ Ja, mit Mütze, Schal, Decke und Weihnachtsjacke unterm Kartoffelsack
war er zu erkennen. Und er ging barfuß. Na ja, in Flipflops bis zur Haustür. Als
er klingelte stand er auf einer Decke, die Sommerfüßler beiseite gelegt. Océane
wollte abwarten. Schließlich kam er zu Besuch zu ihrer Mutter. Auch der alte
Mann verharrte auf dem Sofa und blätterte immer noch neugierig in einem neuen
Jahreskalender, einem verfrühten Weihnachtsgeschenk, das bereits mit der Post
eingetroffen war. Marina und der Mann umarmten sich. Es war regnerisch draußen
und die mitgebrachte Dezemberkälte im warmen Haus tat gut. Er verweilte nicht
auf dem Marmorboden in der Küche, sondern legte seine Decke aus im Esszimmer.
Ein guter Platz für ein Gespräch.
Marina und Daniel unterhielten sich
über das Projekt Weihnachtsmann und die Scham der meisten Menschen, ein bißchen
Wärme, Zeit und Freude anzunehmen…
„Ich habe eine Bitte an Dich“, sagte
sie, während sie grünen Tee zubereitete. „Würdest Du mir die Kerzen am Baum
anschalten?“ Der Baum leuchtete noch nicht. Es war alles etwas zu eng und durch
ihre Schmerzen war Marina nicht selbst in der Lage, sich zur Steckdose hinter
den Baum irgendwie zu bewegen. Sturzgefahr für sie.
Sie hatte schon, bevor seiner Ankunft
den alten Mann gefragt. „Ich weiß nicht, wie es geht“, kam als Antwort. Marina
hatte ihn ungläubig angesehen. Dann ergänzte er: „Er wird mit dem Feigenbaum draußen um
16.30 Uhr angehen.“ Marina sah ihn noch skeptischer an. Der alte Mann hatte
zwar beobachtet um welche Zeit die Außenbeleuchtung programmiert war, aber
diese Uhr hing ja nicht mit der Schaltung der Baumkerzen zusammen.
Sie würde auf den Weihnachtsmann Daniel
einfach warten und diesen bitten. Was sie letzteres auch tat, während sie den Tee
in die Tassen goß. Aber irgendwie akklimatisierte sich Daniel gerade mit seinem
größeren Gewand und kletterte nicht zwischen Wand und Baum an die verborgen
liegende Steckdose. Er setzte sich. Das Gespräch war spannend für beide. Auch wenn
es draußen dämmerte und Marina gerne die Lichter hinter ihm gesehen hätte.
„Halb fünf ist vorbei, es geht immer
noch nicht“, sagte sie in Richtung des alten Mannes, während im Garten bereits
die Beleuchtung brannte.
„Ich schau mal später nach“, beruhigte
Daniel Marina und man unterhielt sich weiter. In Marinas Hinterkopf hämmerte es
dagegen. „Warum macht er es eigentlich nicht gleich?“ Sie verstand das nicht
wirklich. Das Gespräch war hochinteressant, aber kurz aufstehen und die Zeituhr
ausstellen, war doch kein Problem. Nicht für ihn. Marina hätte es längst
gemacht, wenn sie gekonnt hätte. Es war schon betrüblich dunkel und sie wollte
doch ihren Baum in Glanz und Gloria zeigen. Aber sie sagte nichts. Warum auch
immer. Weil sie nicht dominant sein wollte, um mit ihrer Bitte durchzudringen.
Sie hatte gelernt in ihrem Leben, die Dinge so zu nehmen wie sie waren. Sie war
dankbar immer für das was kam. Denn im Laufe ihrer Tage hatte sie auch gelernt,
dass die Gnade Gottes größer war als ihre eigenen Wünsche, Gedanken und
Befürchtungen.
Marina zeigte Daniel ein paar Sachen in
ihrem Zuhause, bis das Telefon klingelte. Ihre Bügelfrau kündigte sich an, um
Wäsche abzuholen, die sie rechtzeitig vor dem Fest fertigbügeln würde. Sie
als Französin staunte nicht schlecht, über die nackten Füße. „Ich trage gerne
schöne Schuhe“, meinte sie bei dem Anblick. Marina verwies auf ihre neuen
maßangefertigen Stiefel. „Ich mag auch schöne Schuhe ansehen, kann sie aber nicht
mehr tragen.“ Der Weihnachtsmann, der ein erdverbundener Naturbursch im Grunde
war, wollte damit ein Stück Urwald in die Stadt tragen. Sein Markenzeichen.
Océane wagte sich hervor und bestaunte
mit Angéle seine Füße. Immer noch brannte nicht das Licht am Baum. Wie lange
das noch dauern würde, bis er nachsah? Man kannte sich und die Bedürfnisse des
anderen nicht gut genug, um nochmal was zu sagen. So dachte Marina. ‚Er ist ja
hier nicht zuhause.‘
Auf jeden Fall schenkte Daniel Zeit.
Das stimmte schon mal. Ihr eigener Mann war gerade bei seinem Vater Harry
gewesen, der im Krankenhaus lag und machte sich jetzt auf in die Stadt. Er rief
an und wollte den Zeitpunkt und den Ort ihres späteren Treffens festlegen.
Marina würde mit dem Wagen hinfahren.
Und während Marina den Hörer in der
Hand hielt und der andere Daniel endlich aufgestanden war, um sich hinter den
Baum vorzutasten, da fingen die Baumkerzen plötzlich wie aus dem dunklen Nichts
an zu leuchten. Und nicht weil der eine Daniel an der Uhr gedreht hatte,
sondern weil Marinas Daniel am Telefon gestern die Uhr so eingestellt hatte, dass
der Baum just zu diesem Zeitpunkt anfing zu leuchten. Das war ein magischer
Moment. Der Anblick des leuchtenden Baums mit dem Weihnachtsmann dahinter, der
nichts getan hatte, war besonders.
Etwas irritierend, schön und wertvoll zugleich. Ausharren lohnte. Auf
das Licht zu warten. Es kam.
„Du, Daniel, das Licht vom Baum ist gerade angegangen“, sagte Marina
laut ins Telefon und in den Raum. Damit es jeder hier und da draußen hören
konnte.
Und so wurde es vielerorts in nicht ganz
einfachen Zeiten wieder Weihnachten.
Anhang
Verbreitete Nachricht über die sozialen Netzwerken
Die Trauerbeigaben in Nizza an der Promenade des Anglais
Die angekommenen Radfahrer und der Rotarier Club von Nizza im Sommer
2016
Bei demAnschlag
in Nizza am 14. Juli 2016fuhr
der Attentäter Mohamed Bouhlel auf derPromenade des
Anglaismit einemLKWdurch eine Menschenmenge. Mindestens 86
Personen wurden getötet und mehr als 300 zum Teil schwer verletzt.
Unser geschmückter Weihnachtsbaum
Der Weihnachtsmann und der Zeitschenker Volker Wieland
Ich schreibespirituelle Geschichten. Meine modernen Frauenfiguren, denen ich meine Texte zuordne, haben einen jeweils anderen Zugang zur Spiritualität. Während Marina ein schönes Leben führt, indem sie die Wirklichkeit auf ihre besondere Art erlebt, kämpft Paula noch mit ihrem Denken. Für Luciah ist es dagegen selbstverständlich, dass sie außerordentliche Träume hat, in denen sie auch ihren Gott erlebt.
Marina und Daniel Carpentier - eine Tochter
Paula und Raphael Silbermann - kein Kind
Luciah und Enrico Williams - zwei Töchter
Söhne Mannheims - Und wenn ein Lied Yusuf Islam - In the End
19.Januar 2013 in der Saarbrücker Zeitung: ...De Gaulle erklärte später, "Verträge seien wie Rosen und junge Mädchen: Sie halten, so lange sie sich halten" Bis er sich korrigierte:"Manchmal entstehe auch ein dauerhafter Rosengarten."
22.Januar 2013. Eine Karte von meiner französischen Freundin Fleurance. Merci, chérie!
***
Eine Geschichte, neu wiederbelebt durch Andrea Nahles, die sich 2019 an ihre Autofahrt über die deutsch-französische Grenze erinnert.
Als die Grenzen in Europa fielen, fuhr ich am selben Tag mit meinem klapprigen Ford Fiesta nach Frankreich. Großartiges Gefühl! Die -Freundschaft ist das Fundament eines vereinten Europas. Ich bin dankbar, dass wir zusammen weitergehen! #EuropaistdieAntwort#AachenerVertrag via Twitter
@andreanahlesspd, 22.Januar 2019
***
Eine Honigkuchengeschichte für große Kinder
anlässlich des Jubiläums des Elyséevertrags
zwischen Frankreich und Deutschland von 1963
ZUSAMMENFASSUNG:
Marina fährt mit ihrer Babytochter Oceane im Cabriolet ihres Mannes Daniel nach Paris. Was denkt und erlebt sie auf der Fahrt am Tag des vierzigjährigen Jubiläums des Freundschaftsvertrages zwischen Deutschen und Franzosen? Eine Geschichte übers Autofahren und Frauen...
Notre traité n’est pas une rose,
il n’est même pas un rosier,
il est une roseraie. Unser
Vertrag ist keine Rose,
er ist nicht
einmal ein Rosenstrauch,
er ist ein Rosengarten.
Charles de Gaulle
Paris, 23.Januar 2003
Marina wollte die Gelegenheit nutzen
und ihren Mann nach Paris begleiten. Ihr Mann, der wieder viel beruflich
unterwegs sein musste, war froh, dass seine kleine Familie so unkompliziert war,
und er sie mitnehmen konnte. Dieses Mal war er Aussteller auf einem großen
französischen Kongress seiner Branche. Er war viel mit den Vorbereitungen
beschäftigt, und so hatten sie sich die Abende zuvor kaum gesehen.
„Du
nimmst das Auto und fährst nach Paris. Ich habe unser Hotel für zwei Nächte
reserviert und wir treffen uns dort.“ Er würde von Zürich aus nach Paris
fliegen.
“Wir
fahren dann am Freitag Abend weiter nach Nordfrankreich und verbringen dort das
Wochenende,“ sagte er.
Obwohl
ihr Mann eigentlich wenig freie Zeit zur Verfügung hatte, wusste er sie sich so
einzuteilen, dass Marina und er viel davon hatten. Wenn er Marina und Océane
mitnahm, ergab sich auch während der Fahrt Gelegenheit, mal über nicht so
wichtige Dinge zu plaudern und über all das, was so liegen geblieben war. Man
konnte auch eine längere Strecke beisammen sein, die sonst nur
ausschließlich dem Beruf vorbehalten war. Marina war zufrieden mit ihrem Leben,
wenn sie denn die Gelegenheit nutzen konnte, ihren Mann zu begleiten. Océane
war mit ihren elf Monaten nun etwas munterer, aber dennoch schien es für ihre
Mutter kein Problem, sich mit dem Kind in Paris zu amüsieren.
Die
Morgenstunden wollte Marina mit ihrer kleinen Tochter im Hotel verbringen.
Océane konnte im Zimmer zunächst einmal herumkrabbeln und danach ihr
Morgenschläfchen machen. Marina hätte Zeit, zu lesen.
Erst
danach würden sie mit ihrem Dreiradkinderwagen vom Bahnhof St. Cloud nach St.
Lazare aufbrechen, um im Lafayette-Kaufhaus oder in einer Kinderboutique nach
schicken neuen Kinderschuhen Ausschau halten. Einfarbige Kinderschuhe, die zu
Océanes Kleidung passten und das Kind nicht kunterbunt aussehen ließen.
Océanes
erste Schuhe aus dem Italienurlaub waren zu klein geworden und schon eine Weile
zog ihr Marina nur noch Strumpf über Strumpf oder ihre Pantoffeln an, die sich
meist irgendwo verloren.
Endlich
entschied sie sich, in einem Saarbrücker Kaufhaus taubenblaue Schuhe in Größe
20 zu kaufen. Sie waren in verschiedenen Blautönen mit Punkten gemustert und
waren von allen die beste Wahl. Für Kinderschuhe
waren sie verhältnismäßig günstig, hatten eine Gummisohle und Marina dachte,
sie könne keinen Fehler machen. Und dann hatte Océane sie doch nicht
angezogen! Sie hatten ihr nicht wirklich gefallen und sie war froh, dass Marina die
Gelegenheit hatte, in Paris nach einem anderen Paar zu suchen. Ja, sie hoffte
auf Paris. Sie hoffte darauf, dass es hier hübsche, nicht so teure Schühchen in
rosa oder am liebsten in weiß gab, so wie das letzte Paar es gewesen war..
Hélene, ihre Schwiegermutter, erwähnte ständig „die schicken Mailänder Schuhe“,
wenn sie Océane in ihren hübschen ersten Tretern sah. Marina hatte kein Problem
darin gesehen, auch in Deutschland so ein dankbares Paar zu finden, wenn diese
zu klein wurden. Und dann war es zur Winterzeit in ihrer kalten Heimatstadt
doch eines.
Die
Babyfachgeschäfte führten einfach keine passenden Kinderschuhe. In den Kinderboutiquen,
wenn es denn welche gab, kannte Marina sich nicht aus. Sie scheute auch
übertriebene Ausgaben für Kinderschuhe. Ihre Tante Margarete hatte es
schlichtweg nicht für möglich gehalten, dass man nach Paris fuhr, um geeignete
Kinderschuhe zu finden. Aber sie hatte ausgiebig Marinas hellen Mantel mit dem
beigefarbenen Kragen aus Pelzimitat bewundert.
„Wo
hast Du den nur her? So ein schicker Mantel...Der war bestimmt teuer..Ich suche
auch mal so was schickes...“, hatte sie gesagt.
Und
dann erzählte Marina ihr von dem großen Pariser Printemps Kaufhaus, in dem Marina bei ihrem vorletzten Besuch den
Mantel so günstig erstanden hatte. Marina fuhr also wieder nach Paris und
freute sich mächtig darauf.
Sie
wollte ihre Reise erst am späten Nachmittag beginnen, um dem großen
Verkehrstreiben in Paris zu entgehen.
Auf einer ihrer vorigen Fahrten mit Daniel konnten beide mit
Océane erst gegen 22.00 Uhr aufbrechen und Marina hatte gegen 1.30 Uhr das
Fahrzeug sicher zum Hotel gelenkt. Bei wenig Verkehr war Paris mit Daniels
Firmenauto und seinem Navigationssystem kein Problem und so plante Marina ihre
erste alleinige Fahrt mit seinem Wagen nicht allzu früh.
„Das
trauen Sie sich?!“ Die etwas betagte Nachbarin von gegenüber schien besorgt. Es
musste also schon etwas besonderes sein, selbst den Wagen nach Paris zu lenken.
Als sie ein junges Mädchen war, war sie einmal mit ihrem Onkel und ihrer
Schwester in Paris gewesen und ihr war in Erinnerung geblieben, dass die
Franzosen wesentlich kleinere Autos fuhren und manche ganz schön verbeult
aussahen. Das aber hatte sich längst geändert. Aber es war noch immer wie ein
kleines Wunder nach Paris zu kommen, obwohl die Seine-Metropole sich nur wenige
hundert Kilometer vor ihrer Haustür befand.
Ihr
Ferienhaus an der Küste Nordfrankreichs schien irgendwie schneller und
einfacher erreichbar, obwohl es geographisch gesehen, noch ein gutes Stück
hinter Paris lag. Paris und eine Reise dorthin gehörten also zu einem ganz
besonderen Mythos auf diesem Erdball.
Marina
nahm einen großen Koffer aus dem Kleiderschrank. Es war nicht nötig, sich auf
weniges zu beschränken. Für die kommenden vier Tage wollte sie für sich und
Océane ihre besten Kleidungsstücke mitnehmen. Dafür bügelte sie ausnahmsweise
in der Waschküche noch ein paar frisch gewaschene Sachen. Das Kind war wie
immer am Mittwoch bis zum späten Mittag bei einer Tagesmutter untergebracht.
Als sie ihr Kind abholte, schlief es im Auto ein, so dass Marina es vor der
Haustür weiter schlafen ließ und in Ruhe packen konnte. Ein stressfreier Tag,
wie Marina fand. Ihre schmale schwarze Handtasche tauschte sie gegen eine
größere ein. Auf Reisen kam immer einiges hinzu: die Videokamera, der
Reiseführer, das kleine Wörterbuch. Da war eine größere Tasche besser...
„Madame,
trois Euro cinquante, s’il vous plaît.«Marina hatte die Fensterscheibe an der
ersten Zahlstelle auf der Autobahnstrecke nach Paris heruntergelassen und sah
die Kassiererin an. Die ersten zwanzig Kilometer der Fahrt lagen hinter ihr.
Sie begann nach ihrem Geldbeutel in ihrer Handtasche zu kramen, die sie auf den
Beifahrersitz gestellt hatte. Er war nicht da. Wo war er? Sie hatte ihn doch
eingesteckt. Sie war sich eigentlich sicher. Aber sie fand ihn nicht. Hinter
ihr stand ein großer Transporter.
„J’ai
pas d’argent,“ sagte Marina zu der Frau in der Kabine.
« Pas
d’argent? Pas une carte bancaire?» Die Frau mit dem Kurzhaarschnitt und den
dunklen Haaren sah sie etwas ungläubig an.
Marina
kramte nochmals im Hauptfach ihrer Tasche. Da war nichts.
„Non,
pas du tout. Je suis desolée.»
«Oh,
la, la...«, meinte die Frau in ihrer etwas verwaschenen Strickweste am
Peage-Schalter. Es gab ein Problem. Marina konnte nicht weiterreisen. Die Frau
begann den deutschen LKW-Fahrer zurückzuwinken. Sie schien etwas älter als
Marina zu sein. Sie war nicht besonders hübsch, wirkte aber nicht unfreundlich,
auch wenn sie nun doch mit ihren großen dunklen Augen ernst dreinblickte.
„Qu’est-ce
que, je peux faire maintenant? Est-ce que je peux retourner ici?» Ohne
Geldbeutel konnte Marina ihre Reise nicht fortsetzen.
Die
Frau nickte. Marina würde umdrehen.
„Was
ist denn los?“ Der Fahrer des LKWs kam
bis an die Fahrertür und beugte sich nach vorne zu Marina.
„Ich
habe meinen Geldbeutel vergessen.“ Er sah das Kind hinten im Kindersitz. Er
schien nicht sonderlich verärgert. Er ging sofort zu seinem Fahrzeug zurück,
das Marina die Sicht nach hinten versperrte. Sie empfand keine Angst. Sie
brauchte nur zurückzustoßen, der großen LKW-Front folgend. Sie konnte nicht erkennen,
wie viele Fahrzeuge sich noch dahinter befanden. Sie fuhr zurück, sah dass es
auf der linken Seite keine Barrieren zur Gegenfahrbahn gab, passte die
entgegenkommenden Autos ab, gab Gas und weg war sie.
„Keinen
Geldbeutel“, dachte sie auf der Fahrt zurück. Irgendwie kann das nicht sein.
Sie
fing wieder in ihrer Handtasche zu kramen. Océane war auffallend still die
ganze Zeit gewesen.
„Jetzt
muss ich wieder nach Hause fahren.“ „Aber wo soll ich suchen?“ Sie ging wieder
den häuslichen Ablauf der vergangenen Stunden durch.
„Nein,
er muss hier irgendwo sein,“ dachte sie.
Océane
hatte ihn in der Hand gehabt, während sie ihre alte Tasche ausgeräumt hatte.
Dort konnte er also definitiv nicht mehr sein.
„Ich
wechsele doch nicht mehr die Taschen. Dann passiert das nicht mehr. Ich werde
mir eine ganz schicke neue Tasche in Paris kaufen, die groß genug ist, so dass ich
sie immer tragen werde.“ Sie kramte in Oceanes Rucksack mit ihren Esssachen und
den Windeln. Nein, da war er nicht.
Sie
versuchte es wieder in der Handtasche, während der Wagen heimwärts rollte.
Diesmal im Seitenfach. Ganz unten fühlte sie etwas. Plötzlich hielt sie den
Geldbeutel in der Hand. Da war er. Das gab es doch nicht. Und sie dachte, sie
hätte ihn nicht eingesteckt. Das Seitenfach der Tasche war ausgesprochen tief
geschnitten. Darüber befanden sich ihr Spiegel, ihr Lippenstift und Vaseline,
um Océanes Babyhaut vor eisiger Kälte zu schützen, ebenso ein Päckchen
koffeinfreier Pulverkaffee. Marina hatte ihn einfach nicht gefühlt. Nicht
erwartet, dass das Seitenfach so tief ging. Sie suchte die nächste Ausfahrt. Forbach. Also wieder zurück.
Als
die Autospitze wieder nach Paris zeigte, erholte sich Marina von dem Schreck und
einem solchen Beginn ihrer Reise. Océane auf dem Hintersitz plapperte wieder
los. Es begann zu regnen.
Erneut
näherte sie sich der ersten Zahlstelle ihrer Reiseroute. Diesmal wählte sie
eine andere Durchfahrt.
Zwei Frauen saßen im Häuschen. Die Kassiererin war eine große schlanke Frau mit
langen blonden Haaren. Sie trug einen schwarzen Rollkragenpulli und eine
Goldkette darüber. Eine weitere blonde Frau mit einem Wuschelkopf saß daneben. Marina bemerkte, wie die Frauen ihr Gespräch unterbrachen. Marina und die große Blonde
öffneten gleichzeitig eine Fensterscheibe. Sie sahen sich an. Die Kassiererin behielt ihren netten Gesichtsausdruck bei, als sie um die Gebühr bat. Sie ließ
Marina alle Zeit der Welt, das Geld hervorzuholen. Ihre zurückhaltende
angenehme Art, fiel Marina direkt auf und sie gab Marina das Gefühl, dass sie sich
nicht beeilen musste.Sie
senkte etwas ihren Kopf, um Océane zu sehen. Océane hatte sich ihren Schnuller
in den Mund gesteckt. Sie sagte etwas zu der anderen Frau über das Baby,
während sie Marina die Hand entgegenstreckte. Marina gab ihr das Geld passend.
Kaum hatte Marina bezahlt, öffnete sich die Schranke und sie gab Gas.
"Das
war eine angenehme Französin", dachte sie. Sie hatte etwas richtig Würdevolles,
Erhabenes an sich und hatte trotzdem irgendwie ein zartes Wesen. Marinas
Aufregung von vorhin war wie weggeblasen. Sie freute sich nun richtig auf die
Fahrt. Auf Paris. „Bon voyage“, hatte die blonde Frau mit der anderen Frau an
ihrer Seite noch zu ihr gesagt. „So ist es angenehm zu reisen.“, dachte Marina.
Sie war froh, dass sich ihr Mann noch kein Gerät angeschafft hatte, um mit
dem Wagen einfach durch eine télépeage
zu fahren und damit automatisch zu bezahlen. Sie war vollauf zufrieden.
Die
weitere Fahrt verlief normal. Das Kind war wegen des langen Mittagsschlafes
noch munter, und da sie im Fond des Wagens saß, langweilte sie sich und suchte
Beschäftigung. Es war schon zu dunkel, um die Welt von der Fensterscheibe aus
zu beobachten. Und das Spielzeug, das ihre Mutter aus einer Stofftasche
hervorzauberte, landete nach an einer Weile auf dem Boden. Marina hielt an, um
eine Pause einzulegen. Sie trank einen koffeinfreien Espresso, während Océane
ihre kleinen Händchen immer wieder auf das Holzbrettchen am Kinderstuhl
patschte und Marina nahm ein wenig vom Dessertbüffet und gab Océane davon.
Später
hielten sie nochmals. In dieser Raststätte gab es eine kleine Rutschbahn und
eine Wippe und das kleine Kind jauchzte vor Vergnügen.
Marina hatte im Radio Nachrichten
gehör t. Heute war kein gewöhnlicher Tag. Während sie sich auf dem Weg nach
Paris befand, feierten die deutschen und französischen Abgeordneten gerade den Freundschaftsvertrag zwischen Frankreich und
Deutschland aus dem Jahre 1963. Marina war noch gar nicht auf der Welt gewesen.
Einige der jüngeren Abgeordneten, die teilnehmen konnten, auch nicht. Es war
für beide Seiten ein großer Tag und die Feierlichkeiten sollten sich über zwei
Tage erstrecken. Heute stand Paris im Mittelpunkt. Es gab eine gemeinsame
Tagung der Nationalversammlung und des Bundestages im Versailler Schloß. Gerade
aßen bei einem festlichen Banquet alle gemeinsam in der langen Galerie mit den
riesigen Wandgemälden über vergangene Schlachten im Schloß. Morgen würde in der
deutschen Hauptstadt gefeiert werden. Aber auch die kleine grenznahe Region aus
der sie kam, wurde verstärkt beachtet, seit diese in den fünfziger Jahren an Frankreich orientiert gewesen war.
Dieser vierzigste Jahrestag des Elyséevertrages zwischen Konrad Adenauer
und Charles de Gaulle hatte im Laufe der Zeit aus Erbfeinden nach blutigen
Kriegen und Auseinandersetzungen Freunde gemacht und aus dem deutschen
Michel und der französischen Marianne war ein Paar geworden. Marina persönlich
hatte nie etwas von der früheren Feindschaft gespürt. Sie war zu jung dazu und
die Politiker beiderseits hatten gute Arbeit geleistet. Das spürte man in vielen
kleinen Dingen. Ihre kleine Nichte Annabelle hatte den französischen
Kindergarten über der Grenze besucht, es gab saarländische Kindergärten, in
denen den Kindern auf spielerische Weise, die Sprache des Nachbarn nähergebracht
wurde. Die Schüler beiderseits machten Unterrichtsbesuche, veranstalteten
gemeinsame kulturelle und sportliche Wettbewerbe und fuhren auf Klassenfahrten
ins Nachbarland. Es gab viele, viele Franzosen und
Französinnen, die im Saarland arbeiteten. Die deutsche Hauptzentrale ihres französischen
Privatwagens befand sich in ihrer Heimatstadt.
Marina
selbst war ein besonderer Fall. Mit ihrem Ferienhaus im Norden Frankreichs war
sie mehr als eine Grenzgängerin geworden. Sie lebte in beiden Kulturen. Und sie
schätzte, je mehr sie von der französischen Lebensart kennenlernte, diese umso
mehr. Die Beobachtung des Lebens der Franzosen gaben ihr eine Zufriedenheit und
ein besonderes Selbstbewusstsein, das sie bei den Menschen in Deutschland
selten erlebte. Sie liebte den Charme der Franzosen. Sie schienen alles aus
Überzeugung zu tun und zu dieser zu stehen. Sie konnten erklärten, warum ihnen
etwas gefiel. Moi, j’adore..., Moi, je
fais, sagten sie. Diese Art von Lebensgefühl hatte Marina bis zum Kauf
ihres Ferienhauses nicht gekannt. Immer wenn sie in Frankreich war, blühte sie
ein wenig mehr auf, als sie es in Deutschland tat. Kein Wunder, dass sie zu
ihrer Neigung gestanden hatte, nach Paris nur ihre besten Kleidungsstücke
mitzunehmen und die zweite Garnitur an Anziehsachen zurückzulassen.
Der
anfängliche Regen hatte aufgehört und mehr als die Hälfte der Strecke lag
hinter ihr. „Achtung, in 100 km Stau.“, sagte das Navigationssystem. In einer
Länge von 2,4 km auf der Peripherique
von Paris gab es zähfließenden Verkehr. „Bis ich komme, ist der längst vorbei,“
dachte Marina.
Das
System hatte die Musik des französischen Senders Radio Nostalgie unterbrochen, des Radiosenders, den sie neu eingestellt hatte. Die kleine Océane war zufrieden mit einem
Schnuller aus Mamas Manteltasche eingeschlafen. Weit hinter Reims kam sie an
die vorletzte Zahlstelle. Der Sender spielte gerade einen alten amerikanischen
Lovesong. „Honey I love you.“
Marina summte leise mit. Sie reichte der Frau
an der Zahlstelle ihre Kreditkarte, die sich im wiedergefundenen Geldbeutel
befand.
Und dann erschrak die Autofahrerin Marina, bei dem was
sie sah. Die Frau in dem Peage-Häuschen
war anders als die anderen vor ihr. Sie hatte große, breite Hände mit unappetitlich
aussehenden Fingern, ihre Nägel waren ganz heruntergekaut. In ihrem
aufgeschwemmten Gesicht befand sich auf der linken Wange eine dicke Warze. Sie sah Marina nicht
richtig in die Augen. Sie lächelte nicht. Sie war unglücklich. Wenn da nicht der alte tragische Song im Radio gewesen wäre,
der Marina aber in eine leise friedvolle und liebevolle Stimmung versetzte: And honey, I miss you and I’m bein‘
good. And I’d love to be with you if only I could...Marina schaute auf das Radiogerät, während die Frau kassierte.
„Jetzt fahre ich von Zahlstelle zu Zahlstelle und
plötzlich beschäftigt mich diese französische Frau.“ In ihren Augen waren die
Französinnen meist viel hübscher und eleganter als die deutschen Frauen. Und
nun hatte sie eine andere Französin gesehen. Und tatsächlich fiel ihr dann ein,
es waren heute Abend nur Frauen gewesen, die an den Péagestellen die Gebühr kassierten. Außer den ersten beiden, hatte
sie die anderen nicht sonderlich in Augenschein genommen. Sie hatten alle ihren
Job getan, während Marina die Autobahn nach Paris benutzte. Marina war jetzt etwas bedrückt.
„Sie macht doch den gleichen Job wie die anderen. Warum
geht es nur ihr so schlecht und den anderen nicht? Diese französische Frau
hatte sie wachgerüttelt. Sie hatte die ganze Fahrt über nicht viel nachgedacht.
Der Radiosong ging zu Ende. ‚Kann die Frau denn kein Radio hören?’ ‚Kann sie
nicht mit jemandem telefonieren? Vielleicht Handarbeiten. Einen Roman lesen? Kann sie sich nicht beschäftigen, um zufrieden zu sein. Mit welchen Sorgen war
sie heute zur Arbeitsstelle gekommen? Hatte ihr Mann keine Beschäftigung? Hatte
sie Schulden? Waren die Kinder krank? Was hatte diese Frau so schwer getroffen,
dass sie so unglücklich drein sah. Nicht alle lebten ein so gutes Leben wie
Marina. Aber sie hatte den anderen Frauen bei ihrer Arbeit an der Péagestelle zugesehen. Es ging nicht
allen schlecht. Die Frau mit den blonden Haaren hatte Marina dermaßen in gute
Stimmung gebracht, dass Marina sich sicher fühlte, sorgenlos mit dem
Firmencabriolet nach Paris zu fahren. Selbst, als die kleine Océane nicht mehr
unbedingt im Autositz ihre Zeit verbringen wollte, die Grazie der Blonden hatte
sie daran erinnert, ruhig und gelassen zu bleiben.
Sie ließ die Frauen heute Abend an sich Revue passieren:
Da war eine Frau mittleren Alters mit einem energischen
Blick. Sie kassierte, bevor sie wieder einen kräftigen Zug aus ihrer Zigarette
nahm. Dass sie eine starke Raucherin war, sah man ihrer Haut an. Sie schien
nicht unsympathisch, aber etwas distanziert.
Da war die dunkelhaarige junge Frau ohne Gesicht. Marina
hatte ihr Gesicht nicht registriert, weil sie für die Gebührenberechnung nur
kurz ihr Telefongespräch unterbrochen hatte. Sie beugte sich kurz danach wieder
nach vorne und sprach weiter. Marina hatte an ihren Bewegungen erkannt, dass sie
noch jung war - vielleicht eine Studentin, die sich hier die Zeit bis zum
Feierabend kurzweilig gestaltete.
Und dann fuhr Marina zur letzten Zahlstelle vor Paris.
Und wieder war es eine Frau, die kassierte. Heute Abend. Sie war etwas älter
als Marina und wirkte nett. Sie gab Marina mit ihrer schlanken Hand und ihren
vielen Goldringen am Ringfinger das Geld und dann schloss sie wieder das Fenster
des Zahlhäuschen. Sie beachtete Marina und ihr Auto nicht weiter. Hier an der
Autobahn hatte sie eine ganz normale Arbeitsstelle gefunden. Marina bewunderte
sie dafür ein bisschen. Sicherlich waren die Kinder der Kassiererin wohlerzogen und ihr Mann
besaß eine mittelgute Stellung und sie führten ein geordnetes Leben.
Zielsicher steuerte Marina nun den Wagen auf die Péripherique von Paris zu. Es gab keinen
Stau mehr. Den Angaben ihres Navigationssystems folgend fuhr sie nach Südwesten.
Ihr Ziel war der Stadtteil St. Cloud.
Sie fuhr am linken Seineufer entlang. Vor ihr lag rechts die Kathedrale Notre
Dame. Ein filigranes Lichtermeer aus dunklen Tönen in braun und blau empfing
sie. Die bekannte Postkartenidylle. Sie hatte die Sehenswürdigkeiten in den
vergangenen Monaten als Beifahrerin immer wieder bewundert. Jetzt wo sie selbst
fuhr, waren sie noch bedeutender. Einige Meter hinter der Eisenbrücke
Alexander III geriet sie auf die Busspur. Um diese Zeit war es kein Problem.
Die Spur war ihr bisher nie aufgefallen. Es war gut, dass sie für sie und die
anderen die Fahrmöglichkeiten verringerte. Gerade die vielen Motorradfahrer
konnten gefährlich schnell an einem Autofahrer rechts oder links vorbeirasen.
Der Eiffelturm auf ihrer linken Seite folgte. Alles klappte gut. Einmal bog
Marina zu scharf rechts ab. Auf dem Navigationssystem war es nicht anders
erkennbar. Sie stand plötzlich vor einem Eisenbahnübergang und musste warten.
Das System lenkte sie ohne großen Zeitverlust sicher in die gewünschten
Straßen, die sie schon bei ihren letzten Besuchen mit dem Kinderwagen
durchgestreift hatte.
Dann hatte sie es geschafft. Sie kam in ihrem
Lieblingshotel an.
Ihr Mann Daniel war noch nicht da. Marina ließ auf ihrem
Handy seine Nummer wählen. Er war unterwegs. Vom S-Bahnhof in La Défense war es noch eine kleine
Weile. Das passte. Sie konnte ihr Gepäck ausräumen und die kleine Océane wecken
und umziehen.
Später, als Marina in dem alten Bett im LouisXV-Stil
neben der kleinen Océane lag, die die Mitte für sich in Anspruch nahm, da das Hotel
über keine Kinderbetten verfügte, dachte sie nach. Sie hätte gerne noch
eine Weile in den Armen ihres Mannes gelegen, aber ihre kleine Familie neben
ihr schlief schon so tief und fest. Marina blieb nichts anderes übrig, als noch ein bisschen wach zu liegen, bis auch
sie schlafen konnte.
Was
hatte sie heute alles erlebt? Diese abendliche Fahrt mit diesen vielen Frauen
an den Autobahnzahlstellen.
Und
was war noch? Da fiel es ihr ein: Ursprünglich hatte sie heute nicht mehr zum
Einkaufen wollen. Tage, an denen sie wegfuhr, sollten den Reisevorbereitungen
vorbehalten sein. Und dann fuhr sie doch schnell in den Baumarkt, als Océane
bei ihrer Tagesmutter war. Sie wollte noch nach einer Tapete für ihr
Gästezimmer Ausschau halten. Die schönsten Tapeten gab es in einem Baumarkt, in
dem es noch keinen Brotshop, Gemüseladen und Getränkeverkauf gab, wie dies
jetzt häufiger üblich war. Als sie so durch die Gänge schlenderte,
verspürte sie plötzlich Lust auf ein Hörnchen. Sie nannte es in Deutschland nicht Croissant. Croissants aß sie in
Frankreich, die waren beinahe unnachahmlich. Also dachte sie an ein
Butterhörnchen während sie die Tapetenmuster betrachtete. Die Zeit für eine
Fahrt zur Bäckerei hatte sie heute nicht. Schon gar nicht für ein
einzelnes Hörnchen.
Und
dann geschah es. Sie kam aus dem Markt und sah vor ihrem Auto einen Bäckerwagen
parken. Sie konnte es nicht wirklich glauben. Aber dann dachte sie an das
Hörnchen und innere Freude keimte in ihr auf. Sie ging auf die Verkaufstheke
zu. Eine blonde Frau mit langen Haaren stand dahinter. „Das Hörnchen da
bitte,“, sagte Marina und zeigte auf das einzige zwischen den anderen
Kaffeeteilchen. Es schien mit etwas gefüllt zu sein. „Das macht ein Euro“,
sagte die Verkäuferin. Marina gab ihr einen Euro und nahm das eingepackte
Hörnchen von der Theke. Plötzlich hielt sie das Hörnchen in der Hand, auf das
sie gerade eben noch so viel Lust verspürt hatte. Für wenig Geld. Wie froh sie
war.
Ob
die sorgenvolle Französin an der Zahlstelle diese Freude verstanden hätte?
Marina dachte noch einmal an sie. Bevor sie in dem kleinen Hotelzimmer im
nächtlichen Paris einschlafen konnte.